Polizeinotruf in dringenden Fällen: 110

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Vor dem und rund um das Stadion des Fußball-Zweitligisten SC Paderborn 07 ging es im Oktober 2022 richtig zur Sache.
Üben mit Störern aus eigenen Reihen
Lützerath war gestern. Fußball-Europameisterschaft ist morgen. Im Sommer 2024 reisen Hunderttausende Fans nach Nordrhein-Westfalen, um ihre Mannschaften zu unterstützen. Mit dabei – so ist es immer – auch Hunderte, vielleicht Tausende gewaltbereite Störer. Vier Stadien auf der Rhein-Ruhr-Schiene und 20 Spiele müssen von der Polizei des Landes gesichert werden. Eine gewaltige Aufgabe über einen Zeitraum von vier Wochen. Die Vorbereitungen laufen längst. Das LAFP NRW koordiniert die Trainings der Einheiten der Bereitschaftspolizei. Die „Streife“ war dabei.
Streife-Redaktion

Der Einpeitscher mit seinen langen, zusammengebundenen blonden Haaren schlägt auf der Trommel im Takt, seine Kumpels tragen ein selbst gemaltes Transparent vor sich her: „Grünes Blut fließt durch unsere Adern.“ Dann skandieren sie bekannte Fanschlachtrufe: „Fußballfans sind keine Verbrecher“, „Weg mit Stadionverboten“. Den behelmten Polizeibeamtinnen und -beamten begegnen mehr als 100 Anhänger des Fußballclubs Grün-Weiß in der üblichen Ausstattung mit Trikots, Vereinsschals und meist schwarzen Überziehmützen. Vermummt recken sie Stinkefinger, zünden Pyros, pöbeln und beleidigen die Einsatzkräfte nur wenige Meter entfernt. Sie stehen sich Auge in Auge gegenüber. Schon lange vor dem Anpfiff sind die Störer mächtig auf Krawall gebürstet. Schnell wird klar: Vor der Fußballarena in Paderborn gibt es an diesem sonnigen Herbsttag für die Hundertschaft einiges zu tun. Einschließen, abdrängen, festnehmen – das volle Programm. Gegen eskalierende Problemfans ist die ganze Bandbreite der Polizeitaktiken und -maßnahmen gefordert.

"Im Einsatzfall muss jeder Handgriff sitzen."

Christine Frücht

Doch: Es ist alles nur gespielt. Die Störer sind Leute aus den eigenen Reihen. Aber die Lage wirkt so explosiv, dass man fast den Anlass einer Übung zur Vorbereitung auf die Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland vergessen könnte. So gut machen die Polizeibeamtinnen und -beamten in Zivil ihre Sache, die den Job als gewaltbereite Fußballanhänger übernommen haben. Die Fake-Fans sind wichtig, damit die Kolleginnen und Kollegen aus Bochum, Bielefeld, Dortmund, Essen, Münster und Recklinghausen ihre Aufgabe, die Spiele, die Mannschaften, die Zuschauer zu schützen, perfekt beherrschen. Auf dem Weg dahin sind Trainings unter möglichst realistischen Bedingungen wie an diesem Tag am Stadion des Fußball-Zweitligisten SC Paderborn 07 unerlässlich. „Im Einsatzfall muss jeder Handgriff sitzen. Insofern bedarf es adäquater Trainingsmöglichkeiten“, unterstreicht Christine Frücht, Direktorin des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW), den Ansatz dieser Übung.

"Hier gibt es viele Szenarien zu meistern."

Fabian Liekmeyer

Auf dem Paderborner Stadiongelände werden diese „besonderen Fußballeinsatzlagen“ vom LAFP NRW zusammen mit der Bereitschaftspolizeiabteilung Bochum und dem Polizeipräsidium Bielefeld vorbereitet. Insgesamt sind rund 800 Männer und Frauen im Einsatz. Die verschiedenen Polizeieinheiten üben die einzelnen Einsatzabläufe und das gemeinsame taktische Vorgehen. Nicht nur in Sachen Manpower hat die Vollübung, bei der auch der Parkplatz des ehemaligen Landesgartenschaugeländes einbezogen wird, einiges zu bieten. Die Beamtinnen und Beamten haben Dutzende Einsatzfahrzeuge und -busse sowie technische Hilfsmittel wie Drohnen im Gepäck.

Mit von der Partie ist auch Fabian Liekmeyer. Der 27-Jährige aus Dortmund baut zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen zunächst eine sogenannte „Bearbeitungsstraße“ auf. Dort werden die Personen erfasst, die auf der Anreise Störungen bzw. Straftaten begangen haben. Wer hat bei einem Stopp an der Autobahnraststätte randaliert? Wer hat Pyros gezündet? Mit Laptop und Kamera ausgerüstet, werden die Personalien erfasst und gegebenenfalls Lichtbilder von den Personen gemacht, um Täter im Rahmen von anschließenden Ermittlungen zuordnen zu können.

„Hier gibt es viele Szenarien zu meistern, die uns in der Realität begegnen“, berichtet Liekmeyer. Auch wenn in diesem Fall alles gespielt sei, komme der alltägliche Arbeitsstress definitiv auf. Diese Vollübung unterscheide sich schon von den üblichen Trainings in der Einheit: „Hier haben wir einen satten Störerblock von 100 Leuten. Wenn wir das allein durchspielen, sind die Personalkapazitäten doch schon sehr begrenzt. So ist alles viel realistischer.“

"Profi-Fußball ist ohne Polizei aktuell nicht mehr möglich."

Martin Hornberger

Das sieht auch der Hausherr so. „Profi-Fußball ist ohne Polizei aktuell nicht mehr möglich“, sagt Martin Hornberger, Geschäftsführer des SC Paderborn 07, der die Geschehnisse rund um sein Stadion aufmerksam beobachtet. Im Jahr 2020 wurde von Minister Reul und den Vereinen der beiden Bundesligen eine Kooperationsvereinbarung über Stadionallianzen in NRW geschlossen. Diese Übungen sind Teil der Stadionallianzen. Doch die COVID-19-Pandemie ließ diese Übungen zunächst nicht zu. Hornberger: „Es heißt ja nicht umsonst, dass man nie auslernt. Aus- und Weiterbildung sind in jedem Beruf wichtig. Dies gilt natürlich auch für die Polizei. Das unterstützen wir gerne.“

Reguläre Vollübungen im öffentlichen Raum sind schon seit Jahren fester Bestandteil der polizeilichen Fortbildung in Nordrhein-Westfalen. Das gilt besonders – aber nicht nur – mit Blick auf den Fußball. Für normale Spiele, für Derbys, für Hochrisiko-Partien in den verschiedenen Ligen. Aber auch schon mit Blick auf die EM 2024. Da wird ohne Frage einiges auf die Polizei im Land zukommen. Vier der zehn Spielorte – Köln, Düsseldorf, Gelsenkirchen und Dortmund – liegen in Nordrhein-Westfalen, 20 Spiele werden hier ausgetragen. Die anderen sechs Spielstätten sind auf sechs verschiedene Bundesländer verteilt. „Mit Trainings solcher hoch dynamischen und komplexen Einsatzlagen schaffen wir nicht nur die Voraussetzungen, um für die Realität in komplexen Einsätzen gut vorbereitet zu sein“, sagt Direktorin Frücht. „Wir können auf diese Weise auch nach landesweit gleichen Standards sicher und professionell agieren.“

Zurück zu Fabian Liekmeyer und seiner Arbeit. Damit der gebürtige Paderborner bei seinem Heimspiel die potenziellen Straftäter erfassen kann, müssen zunächst Jasmin Schulte-Ortbeck und ihre Einsatzkräfte ran. Die 37-jährige Polizeihauptkommissarin leitet die 9. Gruppe der Bereitschaftspolizei Recklinghausen und stellt die Zugriffskräfte, die die Randalierer und Störer aus dem Gästefanbus herausholen sollen. Wenn sowohl äußere als auch innere Absperrung und die Bearbeitungsstraße stehen, gehen die Frauen und Männer der Hundertschaft rein. Vorher heißt es erst mal warten. Auch das gehört zur Polizeiarbeit.

Im Fahrzeug ist es schließlich sehr voll, sehr laut, sehr stickig – so, wie nun mal ein Bus mit angetrunkenen und aufgeheizten Fußballfans das Stadionziel erreicht. Zunächst werden die Insassen herausgeleitet, die den Bus freiwillig verlassen wollen. Dann kommt der Rest. Hier ist von Freiwilligkeit wenig zu spüren. Da müssen die Beamtinnen und Beamten auch schon mal etwas nachhelfen.

"Der Zug harmoniert als Team, was ganz wichtig ist."

Jasmin Schulte-Ortbeck

Anschließend zeigt sich Jasmin Schulte-Ortbeck sehr zufrieden: „Es lief richtig gut. Der Zug harmoniert als Team, was ganz wichtig ist. Für mich ist besonders entscheidend: Die Kommunikation untereinander funktioniert. Ohne eine gute Kommunikation geht es nicht.“ Auch die Rückmeldungen aus ihrem Zug und von Vorgesetzten sind durch die Bank positiv. Einziger Wermutstropfen: Selbst bei einer so großen Übung wie in Paderborn rennt die Zeit davon. Tatsächlich können nicht alle Maßnahmen, zum Beispiel bei der Räumung des Busses angewendet und auf ihre Wirksamkeit bzw. Angemessenheit abgeklopft werden.

"Bei der EM werden sich rivalisierende Fanverhältnisse ergeben."

Dirk Hulverscheidt

Auch wenn es bis zur EM noch gut 15 Monate hin ist, haben im Land die Vorbereitungen für das Fußballspektakel längst begonnen. Los ging es bereits kurz nachdem Deutschland im Sommer 2018 den Zuschlag bekommen hatte. Wie schon bei der WM 2006 bat der Unterausschuss „Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung“ (UA FEK) der Innenministerkonferenz auch diesmal das bevölkerungsreichste Bundesland, eine Projektgruppe einzurichten, die eine polizeiliche Rahmenkonzeption für die Polizeiarbeit von Bund und Ländern erarbeitet.

Klar ist: Nur weil es sich „bloß“ um eine Europameisterschaft handelt, sind die Herausforderungen nicht kleiner als beispielsweise beim „Sommermärchen“ vor knapp 17 Jahren. Im Gegenteil. Obwohl die EM 24 Mannschaften und die WM 32 Mannschaften hat, gibt es einen gravierenden Unterschied: „Bei einer WM sind Mannschaften dabei, die nahezu kein Störerpotenzial haben. Bei der EM werden wir hingegen eine Konzentration von Spielen haben, in denen sich rivalisierende oder feindschaftliche Fanverhältnisse ergeben“, erläutert der Leitende Polizeidirektor Dirk Hulverscheidt, der die Projektgruppe zur Erarbeitung des polizeilichen Rahmenkonzepts leitet (siehe auch „Streife“ 01/22).

Hinzu kommt, dass Deutschland ein offenes Land in der Mitte Europas ist – mit sehr einfachen Reisemöglichkeiten. Viele Fans haben gerade im Gegensatz zu den letzten WMTurnieren in Russland und Katar keine weiten und komplizierten Anreisen zurückzulegen.

"Grob gesagt wird hier beschrieben, was Einheiten können müssen."

Brigitte Piekarczyk

Während am Paderborner Himmel die Drohnen kreisen, bleibt Brigitte Piekarczyk am Boden. Die Aufgaben von Mensch und Maschine sind jedoch die gleichen: beobachten. Die 46-Jährige arbeitet am LAFP NRW als Konzeptioniererin für die Fortbildung der Bereitschaftspolizei. Seit 2019 gibt es ein Qualitätsmanagement, das landesweit die gleichen Standards in der Fortbildung sicherstellen soll und sie effektiv überprüft. Piekarczyk: „Grob gesagt wird hier beschrieben, was Einheiten können müssen und mit welchen Maßnahmen wir dahin kommen wollen.“ Kurz gesagt: Theorie trifft auf Praxis.

„Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen bin ich hier vor Ort, um Feedbacks zu geben“, so die Polizeihauptkommissarin. Dabei sieht sie sich keineswegs „als diejenige, die mit erhobenem Zeigefinger danebensteht“. Am Ende werde vielmehr offen geschaut, was gut und was schlecht gelaufen ist. Zudem sei das Ganze keine Einbahnstraße. Im Zuge ihrer Besuche bei Trainings wie in der ostwestfälischen Kreisstadt checkt Brigitte Piekarczyk, ob die einmal festgelegten Standards tatsächlich noch zur aktuellen Lage passen – oder diese sich mittlerweile in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. „Wenn es beim Transfer der Fortbildung in die Praxis irgendwo hakt, dann kann es gut sein, dass der Fehler bei uns liegt und wir etwas ändern müssen.“

In Paderborn hakt es nirgendwo. Am späteren Nachmittag wird es langsam ruhiger rund um das Schauspielhaus Fußballstadion. Transparente werden eingerollt, Menschen steigen in Busse, Fahrzeuge verlassen das Gelände, die Trommel ist eingepackt. Alle Konflikte lösen sich auf. Und plötzlich legt sich zum ersten Mal an diesem Tag wieder eine friedliche Stimmung über das Fußballstadion.

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110