Die Uniklinik Düsseldorf erwischte es im Jahr 2020, die FH Münster zwei Jahre später. Und im vergangenen Herbst dann mehr als 70 Kommunen in Nordrhein-Westfalen: Sie alle wurden durch einen Angriff von Cyberkriminellen (weitgehend) außer Gefecht gesetzt. Bei der groß angelegten Attacke auf die öffentliche Infrastruktur in NRW im Oktober 2023 handelte es sich ohne Frage um einen der weitreichensten Hackerangriffe in Deutschland überhaupt. Den neuen Ausweis abholen, das Auto anmelden oder eine Urkunde vom Bürgeramt bekommen – vor allem im südlichen und östlichen Nordrhein-Westfalen, aber auch in einzelnen Kommunen im Ruhrgebiet war das über Wochen und Monate nicht möglich.
Tatsächlich werden laut Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) durchschnittlich pro Monat zwei Kommunen oder kommunale Unternehmen Opfer von Anschlägen aus dem Netz. Durch Diebstahl von IT-Ausrüstung und Daten sowie durch Industriespionage und Sabotage entstehen der deutschen Wirtschaft laut Branchenverband Bitkom im Jahr mehr als 200 Milliarden Euro Schaden. All das zeigt: Die Herausforderungen bei der Bekämpfung und Verhütung von Cyberattacken sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Folgerichtig rückt das NRW-Innenministerium diese Kriminalitätsform noch stärker in den Fokus. Sichtbarstes Zeichen dieser Anstrengungen: Für den neuen Aufgabenbereich „Digitale Tatorte“, der sich dem Auffinden digitaler Spuren nach Cyberangriffen auf kritische Infrastruktur und der Bekämpfung dieser Attacken widmet, wurden satte 94 (zum Teil sehr gut dotierte) neue Stellen geschaffen.
Der Auftrag zum Aufbau dieser Einheit landete im Sommer 2022 auf den zuständigen Schreibtischen im Landeskriminalamt in Düsseldorf. Aktuell konnte bereits gut die Hälfte der Stellen mit internen und externen Kräften besetzt werden. „Die Experten verteilen sich im Wesentlichen auf drei Gruppen: neue Techniker, die sich um Hard- und Software für das Projekt kümmern, spezielle KI-Entwickler sowie Tatort-Teams, die in den sechs großen Polizeibehörden Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster sowie im LKA stationiert werden“, erläutert Helmut Picko, Projekt-Gruppenleiter „Digitale Tatorte“.
Diese Schnellen Eingreiftruppen sollen im Fall der Fälle „ausrücken“. „Ein kleines Team wird zunächst vor Ort, am Tatort, den Sachverhalt erkunden und die Technik aufbauen“, so Picko, der auch Leiter des Cybercrime-Kompetenzzentrums im LKA ist. Mithilfe dieser Technik werden digitale Spuren gesichert und anschließend in die Polizei-Cloud hochgeladen, damit sich die Kolleginnen und Kollegen in den Behörden (oder gar im Homeoffice) mit ihren Notebooks an die Aufklärungsarbeit machen können. Dank des leistungsfähigen Computersystems entstehen so gemeinsame virtuelle Dienststellen. Dienststellen, in denen sich die verschiedenen Tatort-Teams gegenseitig unterstützen, wenn etwa der Fachmann für den vorliegenden Cybercrime-Fall eigentlich zu einer anderen Crew gehört.
Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass gerade in Sachen KI, also Künstliche Intelligenz, aktuell ein heftiger Kampf um Talente auf dem Arbeitsmarkt herrscht – mit entsprechenden Gehältern. Ohne KI ist großen Datenmengen aber schlicht nicht Herr zu werden. „Natürlich können wir nicht so viel zahlen, wie zuweilen in der Wirtschaft geboten wird. Dafür punkten wir jedoch mit einem spannenden Job. Das kommt auf dem Markt bei den KI-Fachleuten sehr gut an“, freut sich der Leiter des neuen Projektbüros Andreas Bruns.
Apropos Geld. Wer Cyberkriminelle bekämpfen will, muss natürlich selbst kräftig in Hightech investieren und diese wiederum nicht nur kaufen, sondern auch stets weiterentwickeln. Dazu gehören eigene Einsatzfahrzeuge, leistungsfähige Laptops und Handys, spezielle Rucksäcke, in denen alles verstaut wird, Powerbanks in der Größe von Sackkarren. Diese Batterien sorgen – wenn das Stromnetz zusammengebrochen ist – für die alles entscheidende Energie. „Wir setzen dabei auch auf Technik aus dem militärischen Bereich, die beispielsweise dafür sorgt, dass im dritten Kellergeschoss eines angegriffenen Krankenhauses noch eine Verbindung zum Internet hergestellt werden kann, mit dessen Hilfe die Daten zu den Experten kommen“, sagt Kriminaloberkommissar David Berners, der federführend für den Bereich Ausstattung/Beschaffungen im Projektbüro ist.
Einer der Neuen“ in den Tatort-Teams ist Burak Uslu. Der 27-Jährige kam im Herbst 2023 vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Der junge Mann, der einen Master in IT-Sicherheit besitzt, ist Teil der Dortmunder Gruppe. „Die in der Stellenanzeige skizzierten Aufgabenbereiche, beispielsweise die Rolle als ‚First Responder‘ bei einer Cyberattacke, haben mich sehr interessiert“, berichtet der gebürtige Wuppertaler. „Natürlich hat mich die Möglichkeit gereizt, wieder zurück in die Heimat kommen zu können.“ Uslu betont, dass es mit der ihm nun zur Verfügung stehenden „Top-Notch“-Technik zum Beispiel möglich sei, sich einen guten Überblick über nur schwer zu (er-)fassende Datenmengen von zehn Terabyte oder mehr zu verschaffen. Zur Einordnung für Nicht-Nerds: Auf eine Festplatte mit einer Kapazität von einem Terabyte (!) passen mehr als 200 HD-Filme oder 200.000 Songs.
Aus dem ruhigen Eingewöhnen in der BVB-Metropole und aus den geplanten Hospitanzen in den verschiedenen Abteilungen der Polizeibehörde Dortmund wurde allerdings nichts. Dem geordneten „Onboarding“-Prozess, wie es neudeutsch heißt, kam die Realität in die Quere. Burak Uslu: „Gleich zu Beginn sind wir Ende Oktober 2023 zur Bekämpfung des Cyberangriffs auf die Stadt Siegen und den Hochsauerlandkreis mit den örtlichen Fachleuten ausgerückt. Das war ein sehr spannender und aufregender Start in den neuen Job."
Uslu spricht einen wichtigen Punkt an. Die Polizei in NRW war ja schon vor dem Aufbau der neuen Einheit erfolgreich im Kampf gegen Cybercrime unterwegs. Die neuen Leute arbeiten ergo nicht im „luftleeren“ Raum. Helmut Picko und seine Mitstreiter waren vor dem Start im ganzen Land unterwegs und haben auf einer Art „Roadshow“ das Projekt mit all seinen verschiedenen Facetten in den sechs großen Polizeibehörden ausführlich vorgestellt. Schließlich entsteht hier gerade ein ganz neues, behördenübergreifendes Ökosystem. Ein System, das seinen Platz in der Polizeiorganisation in den kommenden Wochen und Monaten noch finden muss. Das ist eine Herausforderung für die bestehenden Strukturen. Da wird es an der einen oder anderen Stelle ruckeln, da wird nicht von Anfang an alles passen.
Mit der neuen Initiative spielt NRW ohne Frage in einer eigenen Cybercrime-Liga. Da kann kein anderes Bundesland oder gar der Bund mithalten. „Wenn diese Kraft dann jedoch aufgrund von mangelndem Teamwork, Eifersüchteleien oder enttäuschten Hoffnungen hakt, dann bringen das ganze Geld und die starke Manpower wenig“, so Helmut Picko. Er ist sich allerdings sicher, dass dies nicht der Fall sein wird. „Wir konnten viele Menschen mit tollen Fähigkeiten gewinnen, die unsere Cybercrime-Bekämpfung auf ein ganz anderes Level heben werden. Aber erst in der Zusammenarbeit mit den Cyberkriminalisten und IT-Forensikern, die schon länger im Dienst sind, werden wir die volle Kraft auf die Straße bringen.“ Oder in diesem Fall ins Netz.