Wenn die Wörter „Duisburg“ und „Sozialleistungsmissbrauch“ zuletzt in einem Satz genannt oder geschrieben wurden, ging es zumeist um den berühmtberüchtigten „Weißen Riesen“. In dem Problem-Hochhaus im Duisburger Stadtteil Hochheide hatte das Bürger- und Ordnungsamt der Stadt zusammen mit der Polizei Ende Oktober eine Meldekontrolle durchgeführt, um Sozialbetrüger und Menschen mit illegalem Aufenthaltstitel dingfest zu machen. Die Aktion in dem 320-Wohnungen-Komplex aus den 1970er Jahren sorgte bundesweit für viel Aufsehen. Der Paketund Briefzusteller DHL stellte gar im Sommer monatelang wegen Sicherheitsbedenken seinen Dienst ein. Der „gelbe Riese“ fürchtete um die Unversehrtheit seiner Beschäftigten, wenn diese dort Sendungen zustellten.
MISSIMO - Auf den Spuren des Organisierten Kindergeldmissbrauchs
Bei der Bekämpfung des Missbrauchs von Sozialleistungen geht die Ruhrgebiets-Metropole allerdings noch ganz andere Wege – Stichwort: MISSIMO. Im Rahmen des von der Task Force zur Bekämpfung von Finanzierungsquellen der Organisierten Kriminalität und Terrorismus (Task Force NRW) entwickelten Modells MISSIMO wurden im Frühjahr 2024 mehr als 300 vorher identifizierte Anschriften (samt knapp 400 gemeldeten Kindern) von der Duisburger Polizei aufgesucht. Der Verdacht: organisierter Kindergeldmissbrauch. „Bei den Vor-Ort-Kontrollen ergaben sich bei 86 der Anschriften Zweifel, ob die gemeldeten Personen dort noch wohnhaft sind oder jemals waren“, erläutert Lukas Serafin. Der Polizeihauptkommissar versieht seinen Dienst im Duisburger Norden und war an einem der Kontrolltage als Einsatzabschnittsführer für die Maßnahmen in diesem Teil der Stadt zuständig und selbst auf den Straßen in Marxloh und Umgebung unterwegs.
Zum Hintergrund: Bei MISSIMO (Sozialleistungsmissbrauch im Zusammenhang mit Problemimmobilien) handelt es sich um ein von der Task Force NRW mit Sitz im Düsseldorfer LKA entwickeltes Modell. Die Task Force ist wiederum eine ressortübergreifende Dienststelle der Ministerien Inneres, Justiz und Finanzen. Die Ermittlungseinheit bringt Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen, nämlich der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Steuerfahndung, zusammen. Die Fachleute haben sich neben der Zusammenarbeit in Ermittlungsverfahren zum Ziel gesetzt, „interdisziplinäre Bekämpfungsansätze im Bereich des organisierten Missbrauchs von Sozialleistungen“ zu erarbeiten.
Strukturierter Datenaustausch auf kommunaler Ebene
Unser Fokus liegt ganz klar auf der Verhinderung von ungerechtfertigten Kindergeldzahlungen bzw. der Identifizierung von Indikatoren, die auf einen ungerechtfertigten Bezug von Kindergeld hinweisen“, unterstreicht Sebastian Goebels, Leiter des polizeilichen Teils der Task Force NRW. Die Erfüllung dieser Aufgabe soll zunächst mithilfe eines strukturierten Datenaustauschs auf kommunaler Ebene gelingen. Daran beteiligt sind die entsprechenden Ämter vor Ort, heißt: die für die Leistung des Kindergeldes zuständige Familienkasse, die lokale Kreispolizeibehörde und im Weiteren die zuständige Staatsanwaltschaft sowie das regionale Jobcenter. „Gibt es einen berechtigen Verdacht, wird die zuständige Kreispolizeibehörde im Rahmen der Amtshilfe für die Familienkasse tätig und prüft bei verdächtigen Adressen die An- oder Abwesenheit der Anwohnerinnen und Anwohner durch Vor-OrtKontrollen“, erläutert Lucas Gehling, Geschäftsführer von MISSIMO, das Modell, das auch in Duisburg zum Einsatz kam.
Weil alle Theorie bekanntlich grau ist, muss dieses Vorgehen für die Anwendung auf der Straße in praxistaugliche Prozesse umgesetzt werden. Dazu gehört nicht nur, dass Wege festgelegt werden, wie Informationen von Stelle A zu Stelle B kommen, sondern es müssen auch konkrete Formulare wie Mustertabellen für die Datenanlieferung, standardisierte Beobachtungs- und Feststellungsberichte, Anschreiben an Schulen etc. zur Verfügung stehen. Klassische Hardware eben, mit der auf der Straße gearbeitet werden kann. Was wie eine weitere Form überbordender deutscher Bürokratie wirkt, ist aber notwendig, um Erfolg zu haben. Wie zu sehen ist.
Denn dank dieser guten Vorarbeit war auch die Duisburger Polizei zusammen mit ihren Netzwerkpartnern, der Familienkasse West und der Stabsstelle Sozialleistungsbetrug der Stadt, bei ihren Kontrollen sehr erfolgreich. „Wir haben die Anschriften innerhalb von zwei Wochen beinahe komplett abgearbeitet. Oft waren dabei zwei oder drei Besuche in den zu überprüfenden Objekten notwendig, um alle offenen Punkte zu klären“, so Lukas Serafin. Unterm Strich standen letztendlich 71 Kinder und 49 Erwachsene, die nicht mehr dort wohnten und deshalb abgemeldet wurden. „Durch die Ermittlung von Kindergeldbetrügern und die Beendigung des Missbrauchs stellen wir uns schützend vor die arbeitenden Menschen in unserer Stadt und die Menschen, die Hilfen berechtigterweise in Anspruch nehmen“, bilanziert der Duisburger Polizeipräsident Alexander Dierselhuis. Endgültige Daten über die Höhe der eingesparten (weil eingestellten) Kindergeldzahlungen sollen bald vorliegen.
Höhere Schäden verhindert
Los ging es mit MISSIMO in Nordrhein-Westfalen im Übrigen bereits 2019 ¬– zunächst in Krefeld und Gelsenkirchen. Nach der Corona-Pause kam drei Jahre später Wuppertal hinzu. 2024 gingen Leverkusen, Düren, Solingen, Herne, Castrop-Rauxel und eben Duisburg an den Start. 2025 werden Objekte in weiteren Kommunen des ganzen Landes unter die Lupe genommen. Klar ist: Das Modell kann nur auf lokaler Ebene unter Federführung der jeweiligen Städte und Gemeinden durchgeführt werden. Das Interesse im Land ist groß, der Aufwand bei allen Beteiligten zumeist allerdings ebenso. Sebastian Goebels und seine Mitstreiter müssen die erstmaligen Durchläufe intensiv begleiten. „Dabei gilt es, datenschutzrechtliche Bedenken von unterschiedlichen Ämtern auszuräumen oder erst einmal überhaupt beim Aufbau von Strukturen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Kommunen zu helfen“, sagt Staatsanwältin Alexandra Ruß, die den justiziellen Part in der Task Force NRW wahrnimmt.
Sind diese Strukturen erst mal geschaffen, bieten sie häufig einen Mehrwert über die eigentliche MISSIMO-Arbeit hinaus. Jörg Lange, Leiter der Stabsstelle Sozialleistungsbetrug bei der Stadt Duisburg, unterstreicht: „Wir haben zwischen den städtischen Institutionen viele neue Kommunikationswege geschaffen, die auch heute noch aktiv bespielt werden.“ So melden nach seinen Angaben etwa städtische Schulen ihre Daten direkt an die Familienkasse.
Wer mitmacht, kann auf deutliche Entlastung für die öffentlichen Haushalte hoffen. So konnte beispielsweise in Wuppertal ein bereits eingetretener Überzahlungsschaden im sechsstelligen Bereich aufgedeckt werden. Es ist davon auszugehen, dass ohne MISSIMO voraussichtlich wohl noch ein weiterer Schaden in siebenstelliger Höhe im Bergischen Land entstanden wäre. In allen Städten wurden zudem Hinweise auf Schulpflichtverletzungen, auf die Vernachlässigung von Kindern und auf bauliche Mängel bei besuchten Objekten gewonnen.
Interesse am Modell MISSIMO ist groß
Angesichts dieser Ergebnisse ist es nicht verwunderlich, dass das Modell MISSIMO längst über die Landesgrenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus viel Beachtung findet. Sebastian Goebels: „Wir haben das Projekt in Hessen und Bremen vorgestellt und das LKA Berlin in Sachen Kontrollen mit der Familienkasse beraten. Erste Kontakte gab es auch nach Baden Württemberg.“
Hinter dem großen Interesse in Nordrhein-Westfalen und dem Rest des Landes stecken häufig nicht rein „finanzielle“ Motive. „MISSIMO ist insbesondere in Zeiten, in denen die wahrgenommene Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat zunimmt, von großer Bedeutung“, weiß NRW-Innenminister Herbert Reul. „Unser Staat muss nämlich auch wehrhaft denen gegenüber sein, die ihn ausnutzen wollen. Wenn er das ist, nehmen die Menschen in unserem Land dies auch zur Kenntnis – eine Art von vertrauensbildender Maßnahme also.“