Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz sieht die Digitalisierung des Extremismus als größte Herausforderung für alle Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen. Dies geht aus dem heute (9. Juni 2020) von Minister Herbert Reul vorgestellten Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019 hervor. „Das Netz ist die Dunkelkammer eines extremistischen Weltbildes und die Reifekammer für Terroristen. Es ist die Radikalisierungsmaschine des 21. Jahrhunderts. Hier wird Hass gesät, hier verbreitet er sich, hier werden Extremisten zu Terroristen und hier gedeihen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, so Reul.
Ein besonderes Augenmerk legte der Minister auf den Bereich der Verschwörungsideologien, die mitverantwortlich dafür sind, dass extremistische Ansichten über das Internet in die Mitte der Gesellschaft sickern und sich sogenannte „Mischszenen“ aus ganz unterschiedlich motivierten und sozialisierten Menschen bilden. „Da finden sich dann Hooligans, Rocker, Rechtsextremisten und Wutbürger. Aber eben auch ganz normale Leute, die sich Sorgen machen, nachdem sie so viel im Netz über die vermeintlich schlimmen Verhältnisse gelesen haben“, so Reul. Aus ihren Reihen kommen dann die sogenannten Einzeltäter, die im Namen einer „höheren Sache“ handeln, eine vermeintliche Wahrheit erkennen und sich als aufrichtige Kämpfer gegen eine internationale Verschwörung sehen. Reul verwies bei der Vorstellung des Berichts beispielhaft auf den Attentäter von Halle, der sich als ein „unfreiwillig im Zölibat lebender“ Mann sah, dem sein „Recht“ auf Fortpflanzung durch den Feminismus genommen wurde. Außerdem wies er auf den Attentäter von Hanau hin, der am 19. Februar 2020 zehn Menschen tötete und in seiner Schriftensammlung beschreibt, wie er angeblich als Kind Opfer einer Chip-Einpflanzung wurde. „Wir sprechen hier von einer echten Gefahr für unsere Demokratie. Jemand, der glaubt, dass die Corona-Pandemie eine große Lüge sei, um Bürgerrechte einzuschränken, wird sich kaum mehr durch Bürgerengagement und Teilnahme an Wahlen in den demokratischen Prozess einbringen. Zumal wenn er glaubt, dass die Medien diese große Lüge kollektiv mittragen“, so Reul.
Im Vergleich zum Vorjahr ist die Politisch Motivierte Kriminalität in Nordrhein-Westfalen insgesamt zurückgegangen. So wurden im Jahr 2019 6.032 Politisch Motivierte Straftaten bekannt (2018: 6.238). Das ist ein Rückgang um 206 Delikte beziehungsweise 3,3 Prozent. Die Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich der Politisch Motivierten Kriminalität von rechts ist mit 3.661 Straftaten (2018: 3.767) im Vergleich zum Vorjahr um 106 Straftaten gesunken. Propagandadelikte und Volksverhetzungen machen mit 79,7 Prozent (2.917 von 3.661 Straftaten) den überwiegenden Anteil aus (2018: 75,1 Prozent). Die Anzahl der Gewaltdelikte durch rechtsmotivierte Tatverdächtige ist mit 158 Straftaten gegenüber dem Vorjahr um 27,2 Prozent gefallen (2018: 217 Straftaten). Überwiegend handelte es sich hierbei um Körperverletzungen (138 Straftaten bzw. 87,4 Prozent).
Die Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich Links ist leicht gestiegen, um rund zwei Prozent auf 1.424 (2018: 1.394). Ein starker Rückgang ist bei den linksextremistisch motivierten Gewaltdelikten zu verzeichnen, was auf die veränderte Lage im Hambacher Forst zurückzuführen ist. Alleine dort wurden 2018 rund viermal so viele Gewaltstraftaten wie im Jahr 2019 verübt. Die Anzahl der gesamten Gewaltdelikte durch Linksextremisten in Nordrhein-Westfalen hat sich auch deshalb im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als die Hälfte verringert. Hier zählten die Verfassungsschützer im vergangenen Jahr 200 Straftaten, 2018 waren es noch 447 Straftaten gewesen. „Diese Zahlen sind gut, aber sie sind kein Grund zur Entwarnung. Denn was uns Sorgen macht, ist nicht so sehr die Quantität, sondern die Qualität. Und das bei rechts und links motivierten Straftaten. So verzeichnen wir etwa bei antisemitisch motivierten Straftaten einen Rückgang von 350 in 2018 auf 315 in 2019. Vor dem Hintergrund der Ereignisse von Halle und dem Versuch, in der Synagoge Menschen zu erschießen, wäre es aber eben fahrlässig, so zu tun, als sei hier alles im ‚grünen Bereich‘“, so der Minister.
Für den Bereich Islamismus stellen laut des Berichtes ausländische Kämpfer, verurteilte Jihadisten, die ihre Haft verbüßt haben, und Rückkehrer weiterhin ein besonderes Risiko dar. Sie werden von der Polizei in Abstimmung mit dem Verfassungsschutz als „Gefährder“ eingestuft und mit Überwachungsmaßnahmen belegt. Die große Missionierungswelle im Bereich des Salafismus scheint derweil zu stagnieren. So verzeichnet der Verfassungsschutz 2019 nur noch einen leichten Anstieg bei der Anzahl extremistischer Salafisten um 100, von 3.100 im Jahr 2018 auf 3.200 im Jahr 2019. Allerdings befinden sich die Zahlen weiterhin auf hohem Niveau. „Wir müssen unsere repressiven wie präventiven Anstrengungen auf diesem Gebiet unvermindert fortsetzen. Dies im Übrigen nicht nur im Islamismus, sondern auch gegenüber Terrororganisationen wie der PKK“, sagte Reul.
Der Minister nutzte die Vorstellung zudem für einen Appell. „Ich verstehe, wenn sich Bürgerinnen und Bürger angesichts der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie Sorgen machen und demonstrieren wollen. Man kann auch unterschiedlicher Meinung darüber sein, welche Maßnahmen gerechtfertigt oder überzogen sind. Aber jeder sollte sich anschauen, wer links und rechts neben ihm auf dieser Demonstration steht. Und ob er sich damit gemein machen will.“