Das Ministerium des Innern und das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration teilen mit:
Im Auftrag des Ministeriums des Innern hat das Landeskriminalamt erstmals umfassend Tötungsdelikte an Frauen in Nordrhein-Westfalen untersucht. Der Fokus lag dabei auf sogenannten Femiziden – der Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Die Studie basiert auf einer Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für die Jahre 2014 bis 2023. Ergänzend dazu führte die Kriminalistisch-kriminologische Forschungsstelle des Landeskriminalamtes qualitative Interviews mit Expertinnen und Experten aus Polizei, Justiz, Wissenschaft und Opferschutz. Ziel war es, solche Tötungsdelikte zu identifizieren, die geschlechtsbezogen gegen Frauen motiviert waren, sowie die Hintergründe der Taten näher zu beleuchten und präventive Handlungsansätze abzuleiten. Das Landeskriminalamt hat den Forschungsbericht nun veröffentlicht.
Innenminister Herbert Reul: „Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. Jede dieser Taten ist eine Tragödie. Häusliche Gewalt kann ein Vorbote solcher schrecklichen Verbrechen sein. Meist kommen die Täter aus dem nahen Umfeld der Opfer. Oft sind Femizide das Ergebnis von langjähriger Gewalt, Kontrolle und tief verwurzelten Machtfantasien. Das ist ein Menschenbild aus dem Mittelalter, das wir nicht tolerieren dürfen und dem wir entschieden entgegentreten müssen. Und zwar in der breiten Fläche der Gesellschaft. Wir müssen das Bewusstsein für Betroffene weiter schärfen und wachsam sein – ob in der eigenen Familie, im Freundeskreis oder auf der Arbeit. Wir müssen Schutzstrukturen stärken und einfacher zugänglich machen. Gefährdete Frauen müssen wir ermutigen: Melden Sie sich sofort, wenn Sie Hilfe brauchen. Sie werden gehört.“
Gleichstellungsministerin Josefine Paul: „Die Zahlen zeigen, dass fast jeden Tag eine Frau Opfer eines Femizids wird. Die Dunkelziffer bei häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt ist dabei auch weiterhin sehr hoch. Leider ist diese Gewalt von Männern gegen Frauen auch in Nordrhein-Westfalen alltäglich, wie uns die Zahlen des LKA wieder einmal bestätigt haben. Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Landesregierung hat den Gewaltschutz, insbesondere für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen, daher seit Beginn dieser Legislaturperiode prioritär behandelt. Wir fokussieren uns darauf, hier bestehende Schutzlücken zu schließen und den Schutz weiter auszubauen. Das ist auch gelungen. Hier dürfen und werden wir nicht nachlassen. Das Gewalthilfegesetz, das endlich einen Rechtsanspruch für Frauen auf Schutz vor und Hilfe bei Gewalt garantiert, ist ein Meilen-stein. Wir werden die Umsetzung nun konsequent angehen.“
Im Forschungszeitraum 2014 bis 2023 wurden in Nordrhein-Westfalen 1.666 versuchte und vollendete Tötungsdelikte an Frauen erfasst. Insgesamt sind 908 Frauen gestorben. Bei der Untersuchung des Landeskriminalamtes wurden 522 Fälle aller versuchten und vollendeten Tötungsdelikte zum Nachteil von Frauen als Femizide eingeordnet. Bei diesen Taten kamen 235 Frauen ums Leben. In 511 Fällen konnte das Tatmotiv in der Untersuchung nicht eindeutig erkannt werden. In den übrigen 633 Fällen wurde eine Tötung aufgrund des Geschlechts ausgeschlossen.
Aus dem Bericht geht hervor, dass es sich in 87 Prozent der Femizide um Beziehungstaten (452) handelte. In den meisten Fällen wurden die Taten durch aktuelle oder ehemalige Partner begangen. In 99 Prozent der als Femizid eingeordneten Delikte waren die Täter männlich. Bei den untersuchten Fällen sind Täter nichtdeutscher Staatsangehörigkeit gegenüber anderen Tötungsdelikten überproportional häufig vertreten. 26 Prozent der Tatverdächtigen (481) hatten keinen deutschen Pass. Viele Täter zeigten ein stark patriarchales Frauenbild, das mit Kontrolle, Besitzdenken und Eifersucht einherging. Laut den Expertinnen und Experten sei in erster Linie eine angekündigte oder bereits vollzogene Trennung oder Scheidung Auslöser für die Tat. Die Opfer wiederum haben oft Gewalt in Kindheit und Jugend erfahren. Zudem haben sie oft Häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt zwischen den Elternteilen bzw. gegen die Mutter erlebt.
Um Femizide zu verhindern, empfehlen die interviewten Expertinnen und Experten, dass bereits Kinder gleichstellungsorientiert erzogen werden müssen. So ließe sich verhindern, dass sich starre Rollenbilder von Frau und Mann verankern. Dem Elternhaus, Kindertagesstätten und Schulen komme dabei eine zentrale Rolle zu. Des Weiteren müsse die Gesellschaft für Themen wie Häusliche Gewalt, Femizide und bestehende Hilfsangebote sensibilisiert werden. Unterstützungsstrukturen für betroffene Frauen müssten niederschwelliger und flächendeckend verfügbar sein. Auch eine engere und strukturierte Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz und Beratungsstellen kann verhindern, dass Frauen Opfer von Gewalt werden.
In Fällen Häuslicher Gewalt regeln das Gewaltschutzgesetz sowie das neue Gewalthilfegesetz das weitere Vorgehen der Polizei, um Betroffenen zu helfen. Spezielle Risikobewertungen und Gespräche mit Tätern und Betroffenen sollen vor Gewalt schützen. In jeder Kreispolizeibehörde gibt es speziell geschulte Opferschutzbeauftragte, die Frauen beraten und im Notfall besondere Schutzmaßnahmen einleiten.
Die Polizei Nordrhein-Westfalen wird die Erkenntnisse des Forschungsberichts in ihre Arbeit aufnehmen. Ermittlerinnen und Ermittler, die für Tötungsdelikte zuständig sind, werden künftig noch stärker für das Thema sensibilisiert. Neue Techniken, wie die „Domestic Violence (DV)“-Technik sowie elektronische Überwachung, können zusätzlich die Betroffenen schützen.
Zu dem Unterstützungssystem für von Gewalt betroffene Frauen gehören zahlreiche landesgeförderte Einrichtungen, unter anderem 62 allgemeine Frauenberatungsstellen, 57 Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt und 70 Frauenhäuser. Bereits jetzt klärt die Polizei in Schulen und der Öffentlichkeit über Häusliche Gewalt auf und arbeitet eng mit Frauenhäusern, Jugendämtern und anderen Stellen zusammen. Beratungsangebote sollen weiter verbessert und Opfer schneller an externe Stellen vermittelt werden.
„Femizid“ ist in Deutschland derzeit weder ein eigenständiger Straftatbestand noch ein juristisch definierter Rechtsbegriff. Als Grundlage für die Auswertung der Tötungsdelikte hat das Landeskriminalamt die Definition des Europarates, der Istanbul-Konvention und der Vereinten Nationen herangezogen. Ein versuchter oder vollendeter Femizid liegt demnach vor, wenn der Täter ein Mädchen oder eine Frau aufgrund geschlechtsspezifischer Motive und/oder geschlechtsspezifischer Erwartungen und Vorstellungen getötet oder dies versucht hat.
Der Ergebnisbericht der Studie ist hier online abrufbar.