Münster, ein Uni-Campus am Schloss. Die Digital-Ziffern im Mercedes Vito zeigen kurz nach drei Uhr nachts. Das Funkgerät knackt. Eine aufgeregte Frauenstimme ruft: „Flüchtige Person …“ Im Bild erscheint ein Torbogen im Schummerlicht einer Laterne. Alles ist still. Da springt plötzlich ein Mann ins Bild, verschwindet. Blitzschnell geht das. Braune Haare, dunkle Hose, eine Tasche über der Schulter. Zwei Beamte sind ihm auf den Fersen: „Mist, wo ist er?“ Taschenlampen-Kegel gleiten über alte Backsteinmauern. Der Verdächtige ist schon weg, rennt jetzt Richtung Streifenwagen. Die Tür geht auf, eine weitere Polizistin springt raus: „Polizei. Bleiben Sie stehen. Polizei!“ Man sieht Rücken, Beine, dann nur noch Beete. Schnelle Schritte hallen auf feuchten Pflastersteinen. In Münster hat es mal wieder geregnet. Schreie aus dem Off: „Hände hoch. Hände hoch, beide.“
Wüsste der Zuschauer es nicht besser, könnte er denken, er sieht gerade einen Krimi im Vorabend-Fernsehen. Möglich wäre es. Schließlich dient ausgerechnet dieser Tatort im Bispinghof seit 26 Jahren als Kulisse für die ZDF-Serie Wilsberg. Und doch stand das, was hier in dieser Sommernacht vor zwei Jahren passierte, nie in einem Skript, denn es gibt keines. Die Szene war ungestellt, der Dieb echt. Er hatte betrunken ein Fenster eingeschlagen und einem Zeugen eine Kopfnuss verpasst. Das haben die Hauptdarsteller später in einem Bericht vermerkt – ganz nach Dienstvorschrift. Überschrift: Sachbeschädigung mit gefährlicher Körperverletzung. Routine für Hauptkommissar Jürgen Plagemann (54), der seit 37 Jahren bei der Polizei ist, und seine Kollegin Laura Brinkmann (29), die mit ihm Streife fährt.
Drei Monate hat ein Filmteam sie und andere Beamtinnen und Beamte der Polizeiwache am Friesenring in Münster begleitet. Entstanden ist ein 90-minütiger Dokumentarfilm, der nicht allein auf Action-Szenen setzt, sondern auch auf den Zwiespalt der Gefühle. „Wenn du zum Beispiel zu einem Suizid gerufen wirst, puh, das macht was mit einem“, sinniert beispielsweise Polizeioberkommissar Christopher Adolph-Dardenne (36) in einer Szene. Er ist ein weiterer Darsteller in Uniform. Doch dazu später.
Zurück zur Szene im Bispinghof. Was im Film nach wenigen Minuten vorbei ist, dauerte im wahren Leben Stunden: Funkspruch, Anfahrt, Verfolgung, Festnahme, Bericht. Der Verdächtige hat sich schließlich in einem Gebüsch verkrochen. Man sieht nur Schatten, hört Wortfetzen. Im Film sind immer wieder die Stimmen der Beteiligten elektronisch verzerrt, auch Gesichter kann man nicht erkennen. Was wie ein Stilmittel wirkt, waren die Bedingungen, unter denen Regisseurin Eva Wolf die Drehgenehmigung vom Innenministerium bekam. „Persönlichkeitsrechte gehen vor Sensation“, erklärt Pressesprecherin Angela Lüttmann (51), die am „Set“ immer live dabei war und sogar ungewollt zur Nebendarstellerin wurde. In jener Nacht hat sie das Filmteam im Auto zurückgelassen, stürzte aus dem Wagen und fasste den Täter. „Schließlich bin ich auch Polizistin“, sagt sie.
Wie ist es, ständig beobachtet zu werden? „Zuerst war es komisch, doch dann hab ich die Kameras gar nicht mehr wahrgenommen“, sagt Jürgen Plagemann. Nach dem Einsatz sitzen er und Laura Brinkmann im Dienstwagen und beobachten, wie Kollegen den Täter abführen. Zoom auf ihre Gesichter. Für Nahaufnahmen wurden eigens Kameras rechts und links an der Windschutzscheibe installiert. Die Digital-Uhr zeigt 04.00 Uhr. Die nimmt ein Kameramann auf, der im Fond mitfährt und von hinten Aufnahmen durch die Windschutzscheibe macht. Auch die Regisseurin hört jedes Gespräch mit. Den Kommissaren merkt man das nicht an. Sie stehen unter Adrenalin, von Müdigkeit keine Spur. „Jetzt heult er, kann das sein?“ Plagemann grinst Laura Brinkmann an. Die antwortet gelassen: „Na ja, geschnappt ist geschnappt.“ Plagemann startet zufrieden den Motor und sagt: „Erst aufstöbern, dann jagen, dann fangen …“ Dann fährt er los. Der Dienst geht weiter. Auf Streife in Münster – und die Zuschauer fahren mit.
Verkehrskontrollen, Unfälle, häusliche Gewalt, ein Raubüberfall auf einen Supermarkt, viele Ermahnungen. „Mich hat beeindruckt, wie unterschiedlich die Situationen sind, zu denen die Polizei gerufen wird“, sagt Regisseurin Eva Wolf, die sich auf beobachtende Dokumentarfilme spezialisiert hat und für Reportagen bereits Pflegepersonal auf einer Intensivstation und Notärzte begleitete.
In welchen Situationen haben Polizisten Angst? Welche Entscheidungen fallen schwer? Welche Gedanken nimmt man mit in den Feierabend? Darauf sollen Bilder eine Antwort geben, die für sich selbst sprechen. Gestellte Szenen gibt es nicht, dafür viele Gesprächsschnipsel: der erste Tag, der erste Tote und andere Erlebnisse, manche schlimm, andere lustig. „Die Wache“ ist so besonders, dass 1-Live-Radio-Reporter Daniel Danger die Kommissare bereits zum Interview einlud. Frage: „Was hat der Film mit der Realität zu tun?“ Andre Schnieders (36) antwortet: „Er zeigt genau das, was wir täglich machen. Wir fahren raus. Wir sehen was. Wir agieren und interagieren. So funktioniert das halt.“
Schnitt: Ein anderer Tag. Besprechung am Küchentisch in der Wache am Friesenring. Der Diensthabende brieft die Kollegen: „Im Stadtteil Sprakel gibt es Hinweise auf eine Diebesbande.“
Schnitt. Blick in den Zellentrakt. Metallriegel ratschen. Ein Betrunkener grölt und schlägt von innen an die weiße Eisentür.
Schnitt. Schießübungen im Keller des Präsidiums. Patronenhülsen fliegen. Der Trainer sagt: „Stell dir vor, es läuft einer auf dich zu.“
Und dann sitzt das Kamerateam wieder im Auto. Tagschicht. Diesmal begleitet es ein anderes Team. Adolph-Dardenne steigt in den Vito, regt sich auf: „Immer bin ich der Doofe.“ Sie haben einen Fahrradfahrer angehalten, der auf einem Fahrradweg in die falsche Richtung fuhr. „Und dann kriegt man zu hören: Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, wollt ihr nicht besser Vergewaltiger oder Kinderschänder jagen?“ Der Kommissar schaut aus dem Fenster. Draußen ziehen Baustellen, Bäume, Geschäfte vorbei. Starrer Gesichtsausdruck. „Immer wird’s gleich persönlich. Das nagt an mir.“ Sein Kollege hört zu. Dann knackt das Funkgerät. Adolph-Dardenne spricht ins Mikrofon: „11/35 hört.“ Die Stimme aus der Box knarzt: „Lautstarker Ehestreit. Es geht richtig zur Sache. Sie scheint sich eingeschlossen zu haben. Er hämmert wohl gegen Türen. Es ist ein Kleinkind im Haus.“ Die Adresse kommt.
Der Vorfall mit dem Fahrradweg ist vergessen. Bisher war es ein relativ ruhiger Morgen. Die Beamten schalten das Blaulicht ein, fahren über rote Ampeln. Später, nach dem Einsatz, wird Adolph-Dardenne sich wieder ärgern. Diesmal über sich selbst. „Ich fand mich persönlich richtig scheiße, um das mal zu sagen.“ Die Situation war heikel, wäre fast eskaliert. Er konnte den Mann nicht beruhigen. Auch seinem Partner macht der Vorfall noch zu schaffen: „Krasser Typ, dass der so steilgeht.“ Am Ende ist alles glimpflich abgelaufen. Trotzdem: Sie werden einen Einsatzbericht schreiben und einen Vermerk ans Jugendamt schicken.
Schweigen. Draußen zieht Grün vorbei. Im Hintergrund hört man das Rauschen der Straße und den Motor ihres Autos.
Seit dem 18. Oktober 2021 läuft „Die Wache“ in der 3sat-Mediathek.